TANTE ERNA IN DER POHLSTASSE (1)

Bei Tante Erna aus der Pohlstraße (1)

Kein Wasser mehr unterm Kiel

Vor vielen Jahren, es muss wohl so um 1950 herum gewesen sein, als Onkel Piet eine schon recht betagte Barkasse, die in der Werft Sanitz/Barth wieder auf Vordermann gebracht worden war, Kurs Prerow steuerte. Eine Fahrt, die leider tragisch endete. Sie soll sich folgendermaßen zugetragen haben:

Die Fahrrinne im Bodden ist recht schmal, das Wasser daneben von geringer Tiefe. Die Schiffsführer sind gut beraten, die Betonnung möglichst genau zu beachten, um sich nicht im Boddenschlick festzufahren. Meinem Onkel Piet ist solch ein Pech, nämlich das Festfahren, einmal drüben im Zingster Strom passiert. Wobei auch die Wilde Sau, das war damals eine Schnapsmarke, und zwei Kruken Schinkenhäger mit im Spiele waren.

Mit der Barkasse steuerte Onkel Piet von der Werft am Borgwall kommend am Schlachthof und am Seglersteg vorbei zum Barther Hafen hin. Es war ein regnerischer und diesiger Montagmorgen im Frühsommer.

Das miese Wetter hatte aber keine Schuld an Piet´s Strandung.

Ein Schiff, dazu zählt Onkel Pieter natürlich auch so eine kleine Barkasse, musste in festgelegten Fristen gewartet und auf Betriebssicherheit hin überprüft werden und ist deshalb einem strengen Regelwerk unterworfen. In der DDR gab es dafür seit 1950 die DSRK, zuvor hatte der Germanische Lloyd den Hut auf.

Die Werft hatte meinen Onkel Piet losgeschickt, um mit der fünfzehn Meter langen „FRAU LOTTCHEN“ nach Prerow zu fahren, dort zu übernachten und am nächsten Tag eine Tour nach Barhöft zu machen und danach wieder in die Werft zurück kommen.

Auch bei vorherigen Werft- und Probefahrten war Onkel Piet häufig derjenige, dem das Kommando auf den Schiffen anvertraut wurde. Diese Schiffe, es handelte sich dabei in erster Linie um hölzerne 12-Meter- oder 17-Meter-Fischkutter, sind in der Werft Gustav Sanitz, vormals Holzerland, später VEB Bootsbau- und Reparaturwerft, über mehrere Jahre in einer Serie gebaut worden.

Eine Besonderheit, oder vielmehr eine Marotte bei Onkel Piet war, dass er sich zu solchen für ihn ehrenvollen Anlässen wie Probefahrten, immer voller Stolz die alte verschlissene Schippermütze aufsetzte. Tante Erna mochte das absolut nicht leiden, aber sie kam da nicht gegen an.

Was war denn das für eine Mütze? Die stammte noch aus seiner Fahrenszeit auf einem U-Boot. Die Abzeichen an der Mütze, wie Reichsadler mit Hakenkreuz und die scharz-weiß-rote Kokarde hatte Tante Erna natürlich abgetrennt und durch einen schwarzen Stoffaufnäher mit goldgelbem Anker, von gleichfarbigem Eichenlaub umkränzt, ersetzt. Die Mütze selbst, mit welcher er einmal im Skagerrak vor Norwegen mit seinem U-Boot abgesoffen war, galt für ihn seit seiner Rettung als sein Talisman und war ihm heilig.

Er war also, wie gesagt, zur Probefahrt unterwegs um im Fahrbetrieb die sogenannten Restpunkte aufzuspüren. Bevor es aber durch die Molenausfahrt auf den Bodden gehen konnte, war im Hafen erst noch ein ganz spezieller Punkt abzuarbeiten: Der neue 125 PS starke Schiffsdiesel von Buckau Wolf musste seine Schleppkraft, auch Pfahlzug genannt, unter Beweis stellen. Eigens dafür waren beim Hafen zwei Fachleute aufgestiegen; die das überwachten und die Ergebnisse zu Protokoll nahmen. Sie installierten zwischen der Schlepptrosse und einem armdicken Stahlring in der Kaimauer eine Zugwaage. Mit dem Pfahlzug wird die Zugkraft von Schiffsantrieben ermittelt. Für unterschiedliche Leistungsstufen des Schiffsantriebs kann die erzeugte Zugkraft an dieser Zugwaage abgelesen werden. Der Schiffsdiesel muss bei Kommando „Volle Kraft voraus“ für eine genau festgesetzte Zeit seine höchste Leistung bringen. Wenn so ein Prozedere im Hafen anstand, sorgte das verständlicherweise jedes Mal für eine große Ansammlung von Schaulustigen, die das mit großem Interesse verfolgten und es mit mehr oder minder fundierten Fachkommentaren begleiteten. Es kam sogar vor, dass Mitarbeiter der Fischmatsch alles stehen und liegen ließen, um das Spektakel zu beobachten.

Im Anschluss an diese Kraftprobe konnte es mit der eigentlichen Probefahrt aber richtig losgehen. Zwischen den Molenköpfen hindurch ging es über den Bodden in Richtung Müggenburg, um dann in den Zingster Strom zu gelangen. Dort, wo sich die Fahrrinne backbords nach der Oie und Große Kirr sowie steuerbords nach Barhöft gabelt, deutete an Steuerbord auf Höhe des Monser Hakens Kuddel, der mitfahrende Schlosser, aufgeregt zu einer Reuse rüber. Zwei große dunkle Vögel, die ihre Flügel weit zum Trocknen ausgebreitet hatten, saßen auf den Netzen. Es waren Kormorane. Zu jener Zeit noch eine ganz große Seltenheit, sie zu Gesicht zu bekommen. Jeder an Bord wollte die Vögel sehen, doch Käpt´n Piet hatte nur ein einziges Fernglas dabei. Und so mussten eben alle geduldig warten, bis Piet die Kormorane genügend bewundert hatte und das Glas weiterreichte. Während der Arbeit in der Werft waren sie alle schlicht und einfach Kollegen. Hier aber, auf dem Schiff, galt es für jeden, den Anordnungen des Käpt´n absolut Folge zu leisten, und deshalb murrte auch keiner, dass Piet das Fernglas ungebührlich lange vor seine Augen hielt. Nach der Fahrt zwischen der Halbinsel und der Insel Großer Kirr passierte die Barkasse die Meiningenbrücke und rein ging es in den Prerowstrom. In Prerow wurde für die Liegezeit über Nacht festgemacht.

Am Morgen danach tuckerte dann schon sehr frühzeitig der Schiffsdiesel. Leider hatte Piet, dieser alte Seebär, der ja schon vor dem Zweiten Weltkrieg bei einer großen Übersee-Linie gefahren war und im Krieg auf einem U-Boot gedient hatte, in Barth nicht nur festen Proviant gebunkert, sondern das hochprozentige flüssige Lebenselixier der Marken „Wilde Sau“ und „Schinkenhäger“ nicht vergessen. Das heißt, an Bord befand sich Alkohol in einer sozusagen ungesunden Dosis. Folgerichtig kam es wie es kommen musste. Denn die Nacht in Prerow war eintönig und lang, der flüssige Proviant musste der Schiffsbesatzung die Langeweile vertreiben.

Bei der Rückfahrt war man zunächst ohne Probleme durch den engen Prerowstrom gekommen. Bei den Schmidt-Bülten, eine Insel im Bodstedter Bodden am Ausgang des Prerowstroms, waren schon die ersten Unsicherheiten bei Piet nicht zu übersehen. Doch er schaffte es noch, diese hakelige Stelle unfallfrei zu umkurven.

Seine Barkasse „FRAU LOTTCHEN“ hatte nach dem Passieren der Meiningenbrücke wieder den Zingster Strom erreicht. Das ist ja auch nur ein relativ schmales Gewässer mit den beiden kleinen Inseln Brunstwerder und Kleine Kirr darin, die das Navigieren zusätzlich erschweren. Am Brunstwerder mogelte sich der beduselte Onkel noch gerade so vorbei, dann aber geschah das Malheur. Der Onkel und die anderen an Bord mussten wohl doch zu viele geleerte Flaschen gehabt haben.

An der Kleinen Kirr gab es unverhofft einen kräftigen Rums, und die Barkasse hatte jetzt das, was jeder Schiffsführer fürchtet: absolut kein Wasser mehr unterm Kiel. Auf gut deutsch, sie saßen fest! Es nützte alles nichts, Hilfe musste angefordert werden. Mit der Konsequenz, dass der Onkel sich bald darauf gezwungen sah, dem Staatsanwalt im Gerichtssaal ins Auge zu schauen und ihm zuvorkommend und höflich einen Guten Tag zu wünschen. Was ihm aber auch nichts mehr nützte. Ins Kittchen ging er zwar nicht, doch das Urteil lautete trotzdem: Mehrere Monate Bau sowie eine Geldstrafe. Die Einquartierung in ein Zimmer mit vergittertem Fenster, sprich Zelle, wurde zur Bewährung ausgesetzt.

Onkel Piet war in der Folge ein seelisch gebrochener Mann und hat sich von dieser Sache nie wieder erholt. Er besuchte danach aus Scham auch nie wieder das legendäre Gasthaus zur Börse, wo er zwischen den Zahltagen häufig bei Otto Wolter anschreiben lassen konnte. Anschreiben lassen musste er gelegentlich, weil Tante Erna seine Schwächen kannte und ihn darum immer sehr kurz hielt mit den Groschen.

Woher, wurde ich einmal fragt, weißt du das eigentlich alles so genau?

Hat Tante Erna mir etliche Male erzählt, und ein damaliger Kollege von Onkel Piet hat das auch erzählt.“

Rüdiger Pfäffle