DER MAJOR UND DIE WESTMUSIK

Eine Kaserne der NVA, mitten in einer nicht ganz kleinen Stadt an der Ostsee im Herbst des Jahres 1961. Das Regiment stellt sich neu auf. Mehrere kleine Einheiten werden aufgelöst, eine größere dafür neu geschaffen. Ein weiteres Bataillon der damaligen motorisierten Schützen entsteht. Die neue Einheit, die schon bald als das „Schwarze Bataillon“ in Verruf gerät, darf Hauptmann Dicks als Kommandeur befehligen. Wenige Monate nach der Umstrukturierung im Regiment wird in der DDR die allgemeine Wehrpflicht eingeführt, und aus dem Hauptmann Dicks ist ein Major geworden.

Er war von kleinerer, untersetzter Statur. Zum Dienst erschien er mit einem Motorrad MZ RT 125. Auf dem Ding wirkte er aufgrund seiner bescheidenen Körpergröße und seiner leichten Fülligkeit wie der sprichwörtliche Affe auf dem Schleifstein. Der Major hatte eine etwas reichlich wirre Vorstellung von Menschlichkeit bzw. vom Umgang mit Untergebenen. Er liebte Auftritte, bei denen er während des Morgenappells vor dem gesamten Bataillon Soldaten vor die Front zu treten befahl, um diesen in einer äußerst unwürdigen Weise für Vergehen nach Strich und Faden abzukanzeln. Soldaten nennen so etwas zusammenscheißen. Auch schreckte er nicht davor zurück, sich eine Rasierklinge reichen zu lassen, mit welcher er den Delinquenten, egal ob Gefreiter oder Unteroffizier, vor versammelter Truppe die Rangabzeichen eigenhändig von den Schulterstücken abtrennte und somit degradierte. Das waren für Major Dicks Momente der absoluten Befriedigung.

Doch warum ist oben von einem Schwarzen Bataillon die Rede? Der Begriff bildete sich 1962 heraus und ist dann von Soldatenjahrgang zu Soldatenjahrgang weitergegeben worden. Die eigentliche Herkunft des Namens verlor sich dann im Laufe der folgenden Jahre immer mehr im Nebulösen. Richtige Legenden rankten sich um ein scheinbares Geheimnis und haben sich bis heute, noch lange nach der Auflösung der NVA, bei den Ehemaligen gehalten. Dabei hatte die Bezeichnung Schwarzes Bataillon eine ganz simple Herkunft.

Der Bataillonskommandeur, eben jener etwas verklemmte Major Dicks, erließ eines schönen Tages den Befehl, ab 18 Uhr, egal ob Sommer oder Winter, die Fenster zu verdunkeln. Von der Straßenseite, also von der Hauptstraße aus, wirkte das so, als seien die Rostocker im Krieg und müssten sich vor Luftangriffen schützen. Und da nur für den Block dieses Bataillons der Befehl der Verdunkelung galt, entstand dann eben der Begriff „Schwarzes Bataillon“. Wie viele Jahre das noch praktiziert wurde, weiß ich nicht. Ich könnte mir schon vorstellen, dass diesem Irrsein jenes seltsam gestrickten Offiziers irgendwann Einhalt geboten wurde.

Bemerkenswert war an Major Dicks auch seine heisere, krächzende Stimme. Sie klang, als würde er jede Nacht durchzechen. Seine Stimme schwoll ganz besonders dann an, wenn er sich über das „Gejohle“ und das „Bumm-Bumm“, wie er das nannte, das jeden Tag zur Mittagszeit sowie zur Stunde des Abendbrotes aus den Fenstern ausnahmslos aller Soldatenstuben des gesamten Regiments schallte, echauffierte.

Bei jenem „Bumm-Bumm“ zur täglichen Mittagszeit zu hören handelte es sich um das Pausenzeichen des Soldatensenders. Der kündigte jede Sendung an mit „bum, bom, bu-bu-bom, hier ist der Deutsche Soldatensender, Mittelwelle 935 kHz. Wir melden uns täglich um 06:15 Uhr, 12:30 Uhr, 18:00 Uhr und 22:30 Uhr , bum, bom, bu-bu-bom …“. Und dann ging es los mit der West-Musik, die der Major so sehr hasste.

Abends wurde der Deutsche Freiheitssender gehört. Er meldete sich mit „Hier ist der Deutsche Freiheitssender 904, der einzige Sender der Bundesrepublik, der nicht unter Regierungskontrolle steht“. Seine Sendungen wurden permanent von einem durchdringenden pfeifenden Ton begleitet. Bestandteil der Sendungen waren auch angebliche Warnhinweise an die Genossen in der Bundesrepublik. Vor jeder dieser „Warnhinweise“ war zu hören: "Hier ist der Deutsche Freiheitssender 904. Achtung! Wir bitten in wenigen Minuten um Aufmerksamkeit für eine wichtige Durchsage." Solche Durchsagen konnten beispielsweise so lauten: „Wir rufen Skatspieler, Caro beißt", oder „Achtung, Achtung wir rufen Strippenzieher, der Hahn tropft", oder „Achtung Förster, der Hamster bohnert, der Wachs ist alle“.

Man wunderte sich über die Ansagen mit derlei skurrilen Inhalten. Der eine Soldat auf unserer Stube sagte einmal besorgt „Hoffentlich kommt die Warnung nicht zu spät bei den Genossen drüben an“, der andere Soldat meinte belustigt-wegwerfend „Ist doch alles nur hohle Propaganda!“

Die Musik, die sowohl der Freiheitssender als auch der Soldatensender ausstrahlten, unterschied sich sehr vom Musikformat des offiziellen DDR-Rundfunks der 50er und 60er Jahre. Die Begeisterung für die beiden angeblich illegalen Sender war bei den jungen Leuten in der DDR nahezu unbegrenzt hoch. Hier erfreute sich der Sender vor allem wegen der Rock- und Popmusik großer Beliebtheit. Dabei waren beide Sender nichts anderes als propagandistische Hörfunksender der DDR, die bis 1972 als Geheimsender betrieben wurden und in der Nähe von Magdeburg standen.

Die Westmusik, die da täglich zweimal durch sein kleines Bataillons-Reich schallte, war in den Ohren des Major Dicks eine unerhörte Provokation. Doch er konnte nichts dagegen tun. Westmusik war zwar nicht gut gelitten bei den Funktionären, verboten war sie aber auch nicht. Hätte Dicks von seinem Hausrecht Gebrauch machen und das Hören der Sender in seinem Bataillon mittels Befehl verbieten sollen? Nein, das ging schon gar nicht, arbeiteten Freiheitssender und Soldatensender doch mit dem Segen der allerhöchsten Parteigenossen des Politbüros. Und so blieb dem Major nur die mickrige Möglichkeit des Wetterns beim Morgenappell gegen diese „klassenfeindliche Unkultur“! Wohl wissend, dass sein Donnerwetter kein einziges der Soldatenherzen erreichen würde.

Der Dicks übrigens, so erfuhr man nach 1991, soll nicht ganz ehrenvoll aus der NVA abgegangen worden sein. Angeblich wegen verheimlichter Westbekanntschaften. Hingegen könnte aber der Alkohol eine Rolle gespielt haben. In einem Rostocker Großbetrieb soll er anschließend als Meister tätig gewesen sein, war zu hören.

Rüdiger Pfäffle