MEINE HEIDEGESCHICHTEN 1

Das Zugunglück bei Hinrichshagen

Anno 1963, Ende März oder Anfang April muss es gewesen sein. Es lag noch Schnee in der Rostocker Heide. Unsere Kompanie war zur Überprüfung der Schießkünste in den winterlichen Wald gefahren. Dort, an der Wiethäger Schneise zwischen Hinrichshagen und Wiethagen, befand sich einer dieser Ballerplätze.

Ganz in der Nähe stehen dort heute, direkt an der Bäderstraße nach Graal-Müritz, ein paar Wohnblöcke. Die Bushaltestelle nennt sich Erich-Weinert-Siedlung. Diese entstand erst Jahre später, steht aber mit dem Schießplatz nicht im Zusammenhang. Da wohnten Offiziere und so genannte Heimschläfer von der Raketentruppe. Der große Raketenbunker existiert noch. Auf der gegenüber liegenden Straßenseite in einer Entfernung von etwa 100 Metern befand sich die eigentliche Raketenanlage mit fünf Startrampen. Der ganze Wald bei Hinrichshagen war ja regelrecht dicht bepflastert mit militärischen Objekten. Da gab es Munitionsdepots, Kasernen und eine ganze Reihe von Bunkern.

Auf dem Schießgelände waren zwei Holzbaracken aufgebaut worden. Da konnten sich die Soldaten bei schlechtem Wetter unterstellen oder im Winter sich vor der Kälte schützen. Denn geschossen wurde bei jedem Wetter.

Auf dem Platz an der Wiethäger Schneise hat unsere Einheit an jenem Tag im März oder April 1963 geschossen. Ich musste als Wachposten aufziehen und die Ecke Meyers Hausstellenschneise/Wiethäger Schneise sichern. Linker Hand war der Bahnübergang, rechts die Schneise nach Gelbensande, hinter mir zwei Gebäude von Wiethagen und geradeaus die Wiethäger Schneise, an der unser Schießplatz lag. Mein Freund Jan, dem ich diese Geschichte einmal erzählte, fragte mich ironisch: Warst du auch bewaffnet? Hättest du geschossen, wenn da so ein Fremder aus dem Wald auf dich zugekommen wäre"

Nun ja, der Jan hat seltsame Vorstellungen vom Dienst eines Soldaten. Er selbst war ja nie Soldat und sieht manche Dinge etwas verklärt.

Ich hatte zwar eine Maschinenpistole bei mir, aber keine Munition, so dass ich lediglich als uniformierter Posten mit einer Knarre unterm Arm warnend Zivilisten davon abhalten sollte, den Schießbereich zu betreten. Zu DDR-Zeiten hätte es ohnehin niemand gewagt, ein militärisches Sperrgebiet unerlaubt zu betreten.

Damals herrschte noch Ordnung und Disziplin im Land, Dierk!"

Na ja, wie man´s nimmt. Außerdem wäre es auch lebensgefährlich gewesen, bei laufendem Schießbetrieb in den Wald zu gehen. Um es kurz zu machen, Jan, ich stand da so ganz mutterseelenallein im Wald herum und bewahrte die Rehe und Wildschweine davor, durch die Geschosse aus unseren Kalaschnikows zu Schaden zu kommen.“

Es dauerte ein paar Stunden, bis von der Ballerei nichts mehr zu hören war. Das bedeutete, das Schießen ist zu Ende und ich würde nun in Kürze abgeholt werden. Zu diesem Zweck fuhr immer ein Schützenpanzerwagen (SPW) die Strecke ab, um die Absperrposten, die die Waldwege sicherten, einzusammeln und zum Schießplatz zurückzubringen. Ich stand wie ein einsamer Fliegenpilz dort beim Alten Forsthaus an der Schneise und harrte der Dinge, die da kommen sollten und wartete auf den SPW. Kalt war es, der Schnee hatte mir allmählich auch schon die Stiefel durchfeuchtet nach so langer Herumstehzeit. Halbe Stunde rum, noch eine Stunde rum. Dunkel wurde es nun auch schon.

Ich habe doch so großen Schiss vor Wildschweinen, Jan."

Hahaha, einen tollen Soldaten hat der Arbeiter-und Bauernstaat da durchgefüttert."

Ich grübelte was ich nun tun solle. Haben die mich vergessen und sind inzwischen schon längst wieder nach Rostock zurückgefahren? Oder lässt Theo Knopfe, mein Kompaniechef, mich absichtlich hier verhungern und erfrieren?

Da habe ich dann das getan, was ein Soldat eigentlich gar nicht darf. Ich habe einen eigenen Entschluss gefasst. Ganz einfach so, ohne auf einen Befehl zu warten. Dann habe ich mich auf den Weg gemacht und den etwa einen Kilometer Fußmarsch bis zur Einfahrt Schießplatz in Angriff genommen. Es war recht eigenartig, am Schießplatz beachtete niemand diesen so einsam aus dem Wald auftauchenden Soldaten. Auch ansonsten herrschte eine bedrückte Stimmung. Und da stand neben dem Tor ein demolierter Schützenpanzerwagen.

Geschehen war Folgendes: Unmittelbar vor dem Schießplatz überquert die von Rövershagen kommende Bäderbahn die Zufahrt zum Schießplatz. Als der Schützenpanzerwagen die ersten Absperrposten im Wald eingesammelt hatte und diese zum Platz bringen wollte, hatte der Fahrer einen herannahenden Zug nicht bemerkt. Es krachte. Die Lok hatte das Fahrzeug seitlich erfasst, mitgeschleift und demoliert. Im Fahrzeug saßen acht Kameraden. Sechs wurden verletzt, vier von ihnen schwer, sie mussten in die Uniklinik eingeliefert werden.

Dann hattest du einen riesigen Dusel, Dierk. Wäre der Panzerwagen erst in deine Richtung gefahren um dich abzuholen, hättest du auch im Fahrzeug sitzen können."

Ja, daran habe ich bis heute noch gar nicht gedacht, du hast ja recht, mein Bester."

Wie ging die Sache nun aus?"

Wie gesagt, vier von ihnen waren schwer verletzt worden. Am schlimmsten hat es meinen Bettnachbarn erwischt. Jörg Friede heißt er, kam aus Berlin-Pankow.“

Er gehörte zu den letzten Freiwilligen der NVA. Im Herbst 1961, noch während des Mauerbaus, wurden im sogenannten FDJ-Aufgebot sehr viele Jugendliche massiv unter Druck gesetzt, um einem Eintritt in die NVA zuzustimmen. Das waren die letzten Freiwilligen, die ja gar nicht so freiwillig die Uniform anzogen. Doch dieser Jörg war nicht nur mein Bettnachbar, er war mein bester Kamerad in der Kompanie. Er und ich haben so manchen Unfug verzapft und den Kompaniechef Knopfe, von uns Knöpfchen genannt, und den Spieß Hackie bis zur Weißglut geärgert. Bereitet mir noch heute großes Vergnügen, daran zurückzudenken.

Da lag der Jörg nun also in der Rostocker Uniklinik mit einem Silbernagel im komplizierten Bruch des Oberschenkels. Ende des Monats sollte er, ebenso wie ich, endgültig die Soldatenkluft ausziehen dürfen. Gemeinsam wollten wir in der Gaststätte bei „Mutti“ in der Schwimmhalle Neptun eine richtig Sause veranstalten. Daraus wurde aber leider nichts, seine Verletzungen entzündeten sich und begannen zu eitern. Zwei Tage vor meinem Entlassungstermin besuchte ich ihn noch einmal in der Uniklinik, um mich von einem sehr guten Kameraden zu verabschieden.

Seid ihr in Kontakt geblieben, du und dein Freund Jörg?"

Nein, ich habe nie erfahren, ob er wieder gesund wurde und wann er nach Hause durfte. Ich musste all die Jahre immer mal wieder an ihn denken."

Es ist wohl davon auszugehen, dass die Ostsee-Zeitung damals nicht über dieses Bahnunglück bei Wiethagen berichtet hat.

 

Rüdiger Pfäffle