TANTE ERNA AUS DER POHLSTRASSE (2)

Spione am Fenster
Als elfjähriger Bub freute ich mich jedes Mal, wenn Muttern mir erlaubte, in die Pohlstraße zu Tante Erna gehen zu dürfen. Denn dort gab es an fast allen Fenstern Spiegel, sogenannte Spione. Weil man mit ihnen die Pohlstraße nach links aber auch nach rechts beobachten konnte, ohne die Gardine wegzuziehen oder gar ein Fenster öffnen zu müssen. Heute sucht man diese aber vergeblich, sie sind verschwunden. Was eigentlich schade ist, denn auch sie machten den Charme der kleinen Gasse aus. In dieser liebenswerten, romantischen Umgebung also wohnten vor vielen Jahren Tante Erna und Onkel Piet. Der Spion-Spiegel vor Tante Ernas Stubenfenster waren der hauptsächliche Grund, der lieben Tante des Öfteren mal einen Guten Tag zu wünschen. Es bereitete mir einen Heidenspaß, versteckt hinter der Gardine stehend alles beobachten zu können, ohne dass die Leute mich sehen konnten.
Und wenn Onkel Piet nach einem Besuch in Otto Wolters Kneipe "Zur Börse" mit nicht mehr ganz sicherem Schritt nach Hause kam, sah ich das im Spiegel schon von Weitem und konnte das der Tante melden. Deren Reaktion war dann immer: „Fieting, ick glöw, dien Mudding luert all mit dat Abendbrod up di.“ Schade, ich hätte doch zu gerne einmal gesehen, wie Onkel Piet durch den engen Hausflur wankt und in die Stube kommt ohne sich an der niedrigen Türe den Kopf zu stoßen. Und genau das wollte die Tante vermeiden. Wäre ihr bestimmt peinlich gewesen vor dem Jungen.
Manchmal gelang es der Tante aber, Onkel Piet an dessen Lohntag vor der Bootswerft rechtzeitig abzufangen. An einem solchen Tag schenkte sie mir gelegentlich fünfzig Pfennige. Die hielt ich ganz fest in der Hand und lief damit umgehend quer über die Dammstraße hinüber zum Haus Nummer acht. Hier betrieb das Ehepaar Herdt, zwei äußerst freundliche, bescheiden auftretende Menschen, eine Drogerie. Stürmte ich mit strahlendem Gesicht und einem fröhlichen Grüß Gott durch die Ladentür, wussten die beiden Leutchen schon, was ich wollte: Eine Rolle Dextropur-Traubenzucker-Dropse sollte es sein. Die Dinger mochte ich allzu gerne. Ein paar Häuser weiter in Richtung Dammtor hätte ich auch in dem Lebensmittelladen bei Frau Miedbrodt Dextropur kaufen können. Doch in der Drogerie bei der freundlichen Frau Herdt bekam ich manchmal, aber wirklich ganz selten und auch nur, wenn Herr Herdt nicht im Laden war, zu hören: „ach, lass das Geld man stecken, kleiner Mann.“ Ihr hatte es wohl mein schwäbischer Dialekt angetan, den man mir damals noch immer anhörte.

Rüdiger Pfäffle