DIE BLUTTAT IN DER HAFENSTRASSE

So genau weiß ich es nicht mehr zu sagen, aber es war entweder im Herbst 1955 oder Frühjahr 1956. Es hier wird der Versuch unternommen, das, was damals in der Stadt und in der Schule so erzählt wurde, in der Erinnerung wieder wachzurufen. Es kann möglicherweise auch in der Zeitung etwas darüber berichtet worden sein.

Wir wohnten in Barth-Stein in der Baracke 16. Diese Baracke wurde, ebenso wie die Baracke 15 schon vor vielen Jahren abgerissen. Das waren bis Kriegsende die Unterkünfte für die RAD-Maiden (RAD: Reichsarbeitsdienst). Dort, am Ende des heutigen Kiefernweges, macht der Betonweg eine Schleife, man kann das auch einen kleinen Kreisel nennen. In der Mitte stand eine ziemlich alte Weide, der tägliche Treffpunkt für die größeren Jungs aus den umliegenden Wohnungen.

Eine Nachbarin, Frau M., klopfte heftig an unser Fenster, sie gestikulierte ganz aufgeregt: „In der Stadt ist etwas ganz Schlimmes passiert!“ Klar, wir liefen sofort nach draußen und erfuhren, am Hafen wurde jemand ermordet.

Hier, an der alten Weide, standen schon etliche Leute und starrten in Richtung Barth. Niemand wusste eigentlich Genaues. Die Nachricht über das Geschehen in der Stadt hatte Walter T. mitgebracht. In kürzester Zeit lief die Kunde vom Mord in der Hafenstraße durch das gesamte Lager Barth-Stein und hatte die Menschen in Aufregung versetzt. Denn der Mörder war in Barth-Stein kein Unbekannter. Er hieß Frunk*, wohnte in der Baracke neben der Werkstatt der MTS, und war als Unruhestifter bekannt. Ich war damals 13 Jahre alt, für mich waren die Dinge, die die Einwohner hier so trieben, kaum von Interesse. Frunk soll nicht ganz richtig im Kopf gewesen sein, sagten die Erwachsenen. Vielleicht war das die Folge einer brutalen nächtlichen Schlägerei, die sich wenige Monaten zuvor bei seiner Wohnung zugetragen hatte. Mit Gewissheit vermag ich das aber nicht zu sagen. Es mag ja auch sein, dass seine Geistesverwirrung eine Kriegsfolge war. Er lebte mit Frau Vietz* und deren vier Töchtern zusammen. Das älteste Mädchen war wohl achtzehn, ihre jüngeren Schwestern siebzehn und dreizehn Jahre alt. Das Jüngste, ein Kleinkind, war ein leibliches Kind des Frunk.

Zwischen Frau Vietz und ihrem Partner kam es seit einiger Zeit immer häufiger zu Auseinandersetzungen. Die Frau verwehrte ihm den Zutritt zur Wohnung, sie hatte sich von ihm losgesagt. An jenem Tag, von dem hier die Rede ist, versuchte er in der Frühe, es kann so um fünf Uhr gewesen sein, in die Wohnung in der Hafenstraße zu gelangen. Das Hoftor und die Haustüre waren verschlossen, das Klopfen und Rufen nützten ihm nichts, die Frau öffnete nicht. Weil er nicht eingelassen wurde, griff sich Frunk einen Ziegelstein und warf diesen durch die Fensterscheibe in das Zimmer, in dem die Kinder schliefen. Die Mutter hatte sich inzwischen mit ihrer dreizehnjährigen Tochter aus Angst vor Gewalttätigkeiten zu den Mitbewohnern im oberen Stockwerk in Sicherheit gebracht. Sie war wohl der Meinung, an den Kindern würde sich der Eindringling nicht vergreifen. Doch da irrte die Mutter, wie sich bald herausstellen sollte. Der Stein, der durch die Scheibe geworfen worden war, traf die Siebzehnjährige am Kopf. Sie war vermutlich hierdurch derart benommen, dass sie trotz des Scheibenklirrens im Bett liegen blieb. Das ältere Mädchen sprang auf und verkroch sich in der Angst unter dem Bett.

Und nun begann die unvorstellbar grausige Bluttat des Mörders. Er durchtrennte der benommen im Bett liegenden siebzehnjährigen Jugendlichen mit einem Rasiermesser die Kehle. Gleiches tat er auch seinem eigenen, im Kinderbettchen liegenden, kleinen Töchterchen an. Beide Leichen legte er in der Mitte des Zimmers ab, warf sich darüber, und schnitt sich schließlich selbst die Kehle durch. Das Mädchen, das unter dem Bett lag, muss minutenlang Höllenqualen durchlebt haben, die sich niemand vorzustellen vermag und auch nicht möchte. Das Blut ihrer Schwester, die im Bett über ihr ermordet wurde, lief ihr über das Gesicht und die Haare. Allein schon diese Vorstellung muss jedem eine Gänsehaut über den Rücken jagen.

Von mehreren Seiten wurde bestätigt, dass an jenem Morgen mehrere Leute durch das zerschlagene Fenster Einblick hatten. Natürlich erst einige Zeit nach der unfasslichen Tragödie in der Hafenstraße, denn diese geschah ja in sehr früher Stunde eines Wochenendes.

Woher der Täter das Rasiermesser hatte, ob er es schon in mörderischer Absicht mitbrachte, oder es in der Wohnung gefunden hatte, weiß ich nicht. Das dreizehnjährige Mädchen Hannelore, das sich mit der Mutter in die obere Etage geflüchtet hatte, ging mit mir in eine Klasse. Sie war eine fröhliche, hübsche Klassenkameradin. Ich war ihr in kindlicher Schwärmerei sehr zugetan. Deshalb war es für mich schmerzvoll, als ihre Mutter mit den beiden überlebenden Töchtern nach Hamburg ging.

Rüdiger Pfäffle