DAS SONNENBLUMENHAUS


Das Sonnenblumenhaus in Lichtenhagen
Eine Erinnerung

Im Jahr 1990 machten die Hafenleute erste Bekanntschaft mit bis dahin für sie unbekannten Entlassungen. Und das kam dann auch gleich ganz dicke, Massenentlassungen. Zuallererst traf es die Vertragsarbeiter aus Vietnam. Einem großen Teil der Belegschaft war die Gefahr, ebenfalls den Arbeitsplatz verlieren zu können, noch gar nicht so richtig bewusst. Nur relativ wenige der einst 6000 Beschäftigten blieben in Lohn und Brot.

Die Hafenleitung konnte das Desaster nicht verhindern. Sie konnte, wenn überhaupt, nur hilflos reagieren. In dieser Situation rief man am 23. August 1990 eine Projektgruppe ins Leben, die im Zusammenwirken mit dem Rostocker Arbeitsamt nach Möglichkeiten suchen sollte, wie ein Teil der bereits in die Arbeitslosigkeit entlassenen Hafenleute in einer Arbeitsbeschaffungsmaßnahme (ABM) befristet wieder beschäftigt werden könnte. Auch an die erst noch von Arbeitslosigkeit bedrohten Beschäftigten wurde gedacht.

In der damaligen Hermann-Matern-Straße in Lichtenhagen unterhielt der Hafen ein Wohnheim für ausländische Mitarbeiter. Hier wohnten zu jener Zeit Algerier und Vietnamesen. Sie verloren nicht nur ihren Arbeitsplatz im Hafen, auch ihr Wohnrecht im Wohnheim stand auf der Kippe. Sie arbeiteten infolge der Massenentlassungen nicht mehr im Hafen, und hatten daher keinen Anspruch mehr auf eine Unterkunft in diesem Haus. Wo sollten sie hin? Sollten sie in ihre Heimat Vietnam abgeschoben werden, was ja im Gespräch war? Sie wollten aber nicht wieder dorthin zurück.

In dieser vertrackten Situation wurde ein Mitarbeiter der Projektgruppe damit beauftragt, eine ABM zu erarbeiten, wie der Hafen aus dieser Zwickmühle herauskäme. Dabei hatte man seitens des Hafens aber vordergründig nicht die Vietnamesen im Fokus. Vielmehr sollten auf Kosten des Arbeitsamtes die Arbeitsplätze der betrieblichen Handwerker gesichert werden. Für die Instandhaltung der Haustechnik und für eventuelle Reparaturen beschäftigte der Hafen im Wohnheim im Sonnenblumenhaus eine kleine Truppe eigener Handwerker. Das waren zwei oder drei Klempner/Schlosser und ein Elektriker. Im Kellergeschoss hatten sie neben einer kleinen Werkstatt, inklusive Lagerraum für Ersatzteile und Material, auch ihren Aufenthaltsraum. Sie sollten per ABM noch für mindestens ein Jahr gehalten werden. Und zwar meinte die Hafenleitung, diese Maßnahme mit den im Hause wohnenden Vietnamesen begründen zu können. Der Antrag auf eine solche ABM lehnte das Arbeitsamt kategorisch ab, denn die Maßnahme läge mit der formulierten Begründung nicht im öffentlichen Interesse. Eine Maßnahmeförderung könne nur infrage kommen, wenn es um die Heimbewohner selbst und deren Belange ginge.

Guter Rat war da teuer, hatte doch niemand Erfahrung in solcher oder ähnlicher Angelegenheit. Der Hinweis, sich mit dem Rathaus in Verbindung zu setzen wurde gerne angenommen. Zwei dortige Mitarbeiterinnen berieten, was in dem Antrag Berücksichtigung finden und wie das formuliert werden könne. Der Tipp, im Haus der Demokratie in der Barlachstraße in der ehemaligen SED-Kreisleitung Rostock-Land, Hilfe bei der „Initiative für Frieden und Menschenrechte“ zu suchen, stimmte hoffnungsvoll. Die Enttäuschung war aber groß. Die „Initiative“ zeigte wenig Bereitschaft zur Mitarbeit, dort war man eher eifersüchtig auf andere Gruppierungen, von denen es in der Wendezeit mehrere gab. Dr. Wolfgang Richter, Ausländerbeauftragter des Oberbürgermeisters, erläuterte dann, worauf es bei dem Antrag zur Förderung durch das Arbeitsamt ankommt.

Nach etlichen Diskussionen und Einwendungen seitens des Arbeitsamtes gab es endlich grünes Licht. Zwei arbeitslose Pädagoginnen, die bislang an der Betriebsschule gearbeitet hatten, und drei der Vietnamesen kümmerten sich nun in einer ABM für ein Jahr um die Dinge im Wohnheim. Ein Antrag auf Verlängerung der Maßnahme um ein weiteres Jahr fand die Zustimmung durch das Arbeitsamt. Allerdings verbunden mit der Forderung, eine der drei Stellen für einen vietnamesischen Kollegen einzusparen.

Die ABM bewirkte, dass die vietnamesischen Vertragsarbeiter des VEB Seehafen Rostock vorläufig weiter im Wohnhein Lichtenhagen verbleiben konnten. Von einer Abschiebung war auch keine Rede mehr. Dazu hatten wohl auch die Krawalle von 1992 beigetragen. Der später mit dem Bundesverdienstkreuz geehrte Herr Thing gehörte auch zu den Vietnamesen, die eine Stelle in der ABM hatten. 
Der Verein Dien Hong dürfte hier seinen Ursprung gehabt haben.

Rüdiger Pfäffle
22. August 2022